Anton Spiehler (1880)
zum Datenblatt der Holzgauer Wetterspitze
Nach Durchwanderung des lang gezogenen Dorfes Stockach verliessen wir die Poststrasse, gingen am Sulzelbach aufwärts zu der ans linke Ufer führenden Brücke und rückten gegen die Mündung des Sulzelthals und eine jener romantischen Mühlen heran, welche derartige Ausgänge regelmässig besetzt halten. Die Sohle des
Sulzelthals liegt hier, wo sie jäh abbricht, etwa 300 m höher als der Lech, und desshalb ist die Mündung eine klammförmige. Wenige Schritte genügen, um uns von den Wiesen des Lechthals in einen wilden Felscircus zu versetzen, dessen von drei Seiten heranrückenden Wände jedes Vordringen zu vereiteln drohen. Aber
bald zeigt sich ein auch für den Viehtrieb benützter, in den Fels gesprengter und hoch bis zum Band hinauf führender Weg. Zu unserer Linken fliesst der grüne Bach und man fragt sich unwillkürlich, wie er aus diesen anscheinend geschlossenen Wänden hervorgekommen sein mag. Der weisse Schaum deutet auf harten Kampf. Einige Schritte weiter und wir bekommen Einblick in eine schmale Felskluft, welche die Wände von unten bis oben spaltet und in welcher der Bach in mehreren Fällen, unterbrochen von wohl ausgerundeten Absätzen, herabstürzt. Wer das Lechtal durchwandert, sollte nicht versäumen, von dieser hübschen und so bequem am Weg liegenden Partie, der sogenannten Klause, Einsicht zu nehmen.
Wir stiegen den Felspfad hinan, der oft jäh, aber völlig sicher an den Bändern hinleitet und von vorspringenden Ecken Einblick in die enge und gekrümmte Spalte gewährt, die sich nunmehr zur Schlucht erweitert und allmälig in die allgemeine Thalsohle verläuft. Der Weg bleibt stets am linken Ufer und zieht in sanfter Steigung gegen den Hintergrund des kurzen, im Ganzen etwa 6½ km langen Thals. Bald nachdem man sich dem Bach wieder genähert hat, wird die stattliche nach Holzgau gehörige Sulzelalpe (1400 m) erreicht; sie wird erst im September von den zur Zeit auf der Obermädelealpe befindlichen Sennen bezogen. Jenseits des Bachs liegen die elenden Hütten der Ronigalpe. Der hinterste Theil des Sulzelthals heisst »Sussel«; demnach wird auch die obere Sulzelalpe, die uns beherbergen sollte, gewöhnlich als Susselalpe (1730 m) bezeichnet; sie gehört nach Stockach und wird bis Anfang September bewirthschaftet. Von der Poststrasse bis hierher sind bequem 3 Stunden; die grössere Hälfte ist mit Erreichung der unteren Alpe zurückgelegt.
Der allgemeine Character des Sulzelthals leidet trotz der ausserordentlichen Wildheit der Einfassung an einer gewissen Einförmigkeit, bedingt durch den fast völligen Mangel an Wald und Thalstufen. Glanzpunkte bilden der ins Thal vorgeschobene Steilzacken der vorderen, unbesteiglichen Festspitze und die Wetterspitze, die im hinteren Thal in ihrer vollen Majestät vom Scheitel bis zum Fuss überblickt werden kann. Der Hintergrund wird von der Feuerspitze und den Aplesplaisspitzen flankirt und durch eine anscheinend unnahbare Riesenmauer abgesperrt; in dem Boden des so umschlossenen Kessels, dessen Pflanzendecke mühsam gegen die Trümmermassen ankämpft, hat man rechts gehalten die zwischen Felsblöcken versteckte Susselalpe zu suchen. Der langgestreckte niedrige Schupfen, der die Sennerei und Stallung birgt, hatte heute ungewöhnlichen Anforderungen zu genügen, da ausser uns noch verschiedene Heuer aus den benachbarten Bergmähdern die Gastfreundschaft in Anspruch nahmen.
Einzelne zeigten auch Interesse an unseren Absichten und es fehlte nicht an Rathschlägen; mitzugehen hatte keiner Zeit oder Lust. Der Eine rieth, zu dem unmittelbar nördlich der Wetterspitze gelegenen Schartel aufzusteigen; über diesen Einschnitt könne man unschwer von Sulzel nach Griesel gelangen und zur Noth sogar Vieh übertreiben; vom Schartel aus sollten wir den Gipfel angreifen. Glücklicher Weise hatten wir schon so viel vom Berg gesehen, um diesen Vorschlag mit Misstrauen aufzunehmen. Nach meinen späteren Beobachtungen halte ich diesen Weg zwar nicht für unmöglich, aber sicher für unpraktisch. Viel einleuchtender
war der Rath des Obersennen, dessen Weganweisung bis zum Fuss des Thurms wir auch folgten; über die letzte Erkletterung wusste auch er Nichts anzugeben. Wäre in der Sp.-K. (Spezialkarte; Anm. d. Red.) das Terrain südwestlich des Gipfels oder doch wenigstens der Gratzusammenhang richtig gezeichnet, so hätten wir kaum Anlass gehabt, über die Anstiegsrichtung zu zweifeln.
Unser Nachtlager wurde uns auf einem kleinen Verdeck angewiesen, das in einem Winkel des Stalls über den Häuptern des Viehs und knapp unter dem niederen Dach angebracht war. Von Heu waren kaum Spuren vorhanden, dafür stand uns die warme Stalluft zur Verfügung. Der Raum wäre für unsere bescheidenen Ansprüche gerade recht gewesen; leider stiessen wir beim Hineinkriechen auf die stattlich entwickelten Gliedmassen eines Sennen und bald darauf wurden wir durch die Ankunft eines zweiten Berechtigten neuerdings zur Umschichtung genöthigt.
Am folgenden Morgen gingen wir das hügelige Trümmerfeld des obersten Thalbodens vollends aufwärts, überschritten das Bächlein und wandten uns dann links zu der zwischen den Stöcken der Wetterspitze und Feuerspitze bis zur Gratlinie hinaufziehenden breiten und steilen Geröllhalde. Die Ersteigung dieses von Gräben
zerrissenen und stellenweise mit Schnee und Eis besetzten Hangs bildet die Hauptarbeit; von der Alpe bis zum Grat sind fast drei Stunden erforderlich. Das Maass der Beschwerlichkeit hängt von der mehr oder minder glücklichen Auswahl der Wegrichtung ab; man wird gut thun, sich gleich vom Anfang ziemlich in der Mitte zu halten. Gefährliche Stellen sind nicht zu passiren und Steigeisen nicht erforderlich. Etwa ¼ Stunde unter dem Grat, in der Höhe des unter den Wänden der Feuerspitze lagernden kleinen Sulzlerferners findet man das letzte Wasser. Von da erreicht man bequem den Grat, der an dieser Stelle eine flach gewölbte Einsenkung (2700 m) bildet, deren Material aus dünn geschichtetem bröcklichem dunkelgelbem Kalk besteht; derselbe verwittert zu einer dunklen Erde, aus welcher häufig Bergkrystalle hervorblitzen.
Südlich erheben sich im Grat sofort mit dicken Bänken röthlichen Kalks die Wände der Feuerspitze, nördlich setzt sich der Grat als wüste Trümmermasse fort, in welcher ziemlich zusammenhanglos zackige und zerrissene Felsen die Gratlinie kennzeichnen, bis sich plötzlich die Säule der Wetterspitze erhebt. Auf der Ostseite liegt, nahe bis zum Grat heraufreichend, der Fallenbacher Ferner mit seiner Umrandung; in mehreren Abstufungen senkt er sich gegen die oberste Terrasse des Grieselthals, wo er in einer ausgedehnten Geröllhalde endigt, an deren Fuss der kleine Fallenbacher See liegt. Wir bewegten uns links gewandt auf dem Grat weiter, bis die Zacken uns zwangen, links auszubiegen; rechts gegen den Ferner sind Steilabbrüche. Möglichst hoch bleibend erreichten wir theils über grobes Geröll, das in lästiger Weise den ganzen Bergrücken übersät, theils über Felsrippen kletternd nach 25 Minuten den Fuss des Gipfelthurms (2820 m). Bis hieher war uns der Weg durch das Terrain klar vorgezeichnet und hatten sich keine nennenswerten Schwierigkeiten ergeben. Von hier, dem Südfuss des Thurms
allein, kann der Gipfel bestiegen werden. Auf allen anderen Seiten sind die Wände viel höher und soweit meine Kenntniss reicht völlig unnahbar.
Wir standen jetzt vor der Hauptaufgabe; wenige Schritte vor uns steht in bekannter Form der Gipfel. Auf der rechten Seite zeigt sich eine glatte etwas überhängende Mauer, die ihren Fuss in eine steile enge Schlucht setzt, welche unmittelbar zu unserer Rechten vom Grat hinabschiesst. Auch gerade vor uns sitzt die Fortsetzung dieser Mauer anscheinend senkrecht, wenn auch mit geringerer Höhe, dem Grat auf. Die eigentliche Gipfelregion ist durch diese Steilwände dem Einblick entzogen. Nur links reicht ein Geröllstreifen noch eine Strecke höher hinauf gegen eine Art Kamin, der sich dort in die trotzige Masse eingesprengt zeigt. In dieser Richtung ist offenbar allein der Anstieg möglich. Erfreut über diese unverhoffte Klarheit legten wir die Rucksäcke nieder und gingen dem Kamin zu. Derselbe wird durch eine Spalte gebildet, welche einen Theil des linkseitigen Felsstocks vom Hauptmassiv lostrennt und zum Theil mit Trümmermassen wieder gestopft ist. Nachdem wir uns emporgearbeitet hatten, bot sich ein interessanter Anblick. Wir standen am Rand eines grossen Lochs, das durch den Berg gebohrt schien und durch welches wir schwindelnd tief ins Thal hinabsahen. Die Spalte ist nämlich jenseits durch einen herabgestürzten enormen Felsblock überdeckt, der sich so eingezwängt hat, dass eine Oeffnung frei bleibt; einige abgelassene Blöcke verschwanden nach Passirung der Oeffnung lautlos. Wir
befanden uns im obersten Theil der nordwestlichen Thurmwand, zu der wir gestern aus dem Sulzelthal heraufgeblickt hatten; ein Stück der grünen Thalsohle grüsste freundlich durch den grauen Fels.
Wie wir später erfuhren, nennt man diese Stelle das Kammerloch. Von hier an verliert die Besteigung ihren harmlosen Charakter; wollten wir sie fortsetzen, so mussten wir die sichere Kluft verlassen und frei an der Wand emporklettern. Wenn ein besserer Anstieg existirte, so hatten wir ihn offenbar verfehlt. Ohne
Seil und Eisen, deren Werth auf Fels ich erst später schätzen lernte, beschlossen wir soweit emporzudringen, als wir uns vollkommen sicher fühlen würden. Das Gestein zeigte sich sehr unzuverlässig; das gähnende Kammerloch im Rücken, welches gierig die unter den Händen weichenden faulen Blöcke verschlang, stiegen
wir vorsichtig aufwärts, konnten aber bald nicht mehr sicher hintereinander arbeiten. Mein Gefährte musste wieder zur Spalte zurück und in einer vor Steinfall geschützten Stellung meinen Befund abwarten. Ich hatte versprochen, alsbald umzukehren, wenn sich die Verhältnisse nicht entschieden bessern würden. Sie wurden aber schlimmer. Nach einigem Tasten fanden allerdings Hand und Fuss immer wieder Haltpunkte, aber dieselben waren so klein und selten, dass ich wegen des Rückwegs besorgt wurde. Ich glaubte den Höhenrand in kurzer Entfernung vor mir zu haben; bis dorthin schienen die Umstände die gleichen zu bleiben. Die erwähnten Bedenken und die Ungewissheit, ob man von oben zum Hauptgipfel, den wir mit Recht auf der entgegengesetzten Seite suchten, werde gelangen können, liessen mich thun, was unter diesen Umständen einzig vernünftig war, nämlich den von unten herauf dringenden Mahnrufen folgen und ebenso langsam und vorsichtig wieder herabklettern. Später erfuhren wir, dass dieser Anstieg allerdings zum Ziel führt und oben keine Hindernisse mehr erwachsen. In der
Gegend von Elbigenalp kannte man damals überhaupt keinen anderen Anstieg als den über das Kammerloch, wodurch die früher vernommenen Schauergeschichten erklärlich werden. Möglich, dass ich heute diese Partie etwas anders beurtheilen würde als vor sechs Jahren; immerhin erfordert sie hohe Sicherheit im Felsklettern und vor allem ein gegen die schaurigsten Abgründe unempfindliches Auge. Angesichts des Umstands, dass sie über thurmhohen Wänden ausgeführt werden muss, kann sie nicht anders als gefährlich bezeichnet werden.
Beim Kammerloch wieder vereinigt beschlossen wir diese Linie definitiv fallen zu lassen, und da von hier aus keine andere Möglichkeit bestand, zogen wir uns langsam, die Wände auf das sorgfältigste untersuchend, durch die Spalte zurück und gelangten gründlich enttäuscht wieder zu unseren Rucksäcken, mit deren Inhalt wir unseren Aerger zu beschwichtigen suchten. — Nun begann ich nochmals die vor uns stehenden Wände genau zu durchmustern und alle Unebenheiten und Vorsprünge im Einzelnen zu verfolgen. Gerade vor uns war die Mauer am niedrigsten, etwa zwei Stockwerke hoch; darüber war der Fels mehr zerrissen und aufgelöst. An zwei verschiedenen Stellen glaubte ich einen Schein von Möglichkeit zu er erkennen. Ohne an Erfolg zu glauben, nur um Alles gethan zu
haben, trat ich an die erste heran, wo herabsickerndes Wasser den Fels dunkel gefärbt hatte. Unmöglich auch nur einen Meter hoch emporzukommen. An der zweiten Stelle, mehr rechts konnte ich mich nach einigen vergeblichen Versuchen mittels kleiner Vorsprünge und Risse, die nur in unmittelbarster Nähe sich bemerklich
machen, einige Meter hinaufarbeiten, fand dort einen etwas besseren Stützpunkt und ein Riss half noch etwas weiter. Von hier aus konnte ich im Nothfall zurückspringen, jetzt musste es aber besser kommen; und das geschah. Es ergaben sich eckige Vorsprünge, die nicht abbröckelten, sondern bei aller Kleinheit vorzüglich hielten, und so gelangte ich zur oberen Region. Damit war denn der Trotzkopf endlich bei seiner geschickt verborgenen schwachen Seite gefasst. So kerngesund dieser Thurm von drei Seiten her erscheint, in die Südseite ist Bresche gelegt, die nur dem Nahestehenden durch die soeben überstiegene Mauer verdeckt wird. Einmal hier eingestiegen, gelangt man über zerklüfteten Fels an den Rand einer Mulde, welche den Gipfelbau aushöhlt und vom Zinnenkranz fast von allen Seiten umschlossen wird. Im Bogen zieht sie vom östlich gelegenen Gipfelpunkt herab und mündet über der überhängenden Mauer östlich von unserer Raststelle. Massenhaftes Getrümmer erfüllt den Hohlweg, ganze Steinlawinen werden unter den Füssen lebendig und ergiessen sich in die östlich vom Grat abziehende Steilschlucht. Möglichst links haltend und an den aus dem Geröll hervorragenden brüchigen Felsen Halt suchend, die Mulde zu meiner Rechten, brauchte ich nicht weit vorzudringen, um rechts oben in massiger Entfernung des durch einen Steinmann und zwei Stangen markirten Gipfels ansichtig zu werden; gleichzeitig tauchte hinter mir mein Gefährte auf, der sofort nachgestiegen war. In 40 Minuten nach Verlassen der Rucksäcke war der stolze Gipfel erreicht.